Die Insel: Die Beichte

Diese Zeit fragt nicht nach Schuld. Nicht nach Zweifeln. Es wird getan, was getan werden muss. So gibt es gar keine Zweifel darüber, dass Katy wieder zu ihrer Mutter kommt. Neve weiß nicht, was sie fühlen soll. Ob sie überhaupt etwas fühlt. Alles, was sie so sorgsam aus Kopf und Herz verbannt hat, kommt jetzt wie ein Zug auf sie zu. Sie muss ans Meer.

Ein Stück den Hügel weiter hoch im Kirchenanbau hat Lisbeth ebenso viel Bauchschmerzen wie Neve. Der Pastor hat es langsam satt. Etwas Wundervolles ist passiert und beide Schwestern scheinen am Ende ihrer Kraft und ihres guten Willens zu sein. „Es reicht“, sagt er, als er die weinende Lisbeth auf die Bank vor dem Haus setzt. Und so beichtet Lisbeth, stockend, mit kleiner Stimme, bis die Ereignisse jener Nacht von ihr Besitz ergreifen und sie steht vor ihm wie eine Schauspielerin, die die Rolle ihres Lebens spielt.

Jeder wollte damals fort. Fort aus den Städten. Fort von anderen Menschen. Eine Karawane von Menschen setzte sich Richtung Küste in Bewegung. Nur fort vom Festland, hinaus auf irgendeine der dünn besiedelten Inseln. Die meisten Inseln hatten schon die Anleger blockiert und ließen niemanden mehr an Land. Neve und Lisbeth aber hatten da diese winzige Urlaubsinsel, auf der sie fast jedermann kannten. Sie waren sicher, sie würden sie an Land lassen. Sie ergatterten einen Platz auf einem der letzten Dampfer. Der Kapitän hatte gleich klar gemacht, dass er nicht zurückkehren würde. Wer keinen Landzugang fand, würde auf dem Boot bleiben, das weit draußen verankert würde. Nur er und sein Sohn würden abgeholt. So war das damals. Genau so.

Halbwegs auf dem Weg zu Hafen, eine riesige Menschenmenge im Rücken, bestand Neve plötzlich darauf, in das Haus zurückzukehren und ihre Bücher zu holen. „Ich hab es nicht verstanden“, sagte Lisbeth, „ich glaube, sie dachte, dass Wissen unser Leben retten könnte – eines Tages. Aber es war eine völlig verrückte Idee. Ich begann sie anzuschreien und zu beschimpfen. Sie wollte, dass ich Katy nahm. Ich konnte es nicht glauben. Also drehte ich mich einfach um und rannte Richtung Hafen, in der festen Überzeugung, dass sie mir folgen würde.“

Aber Neve dreht um, kämpft sich mit Katy zurück zum Haus, heißt Katy auf den Stufen vorm Haus zu warten, belädt zwei Koffer mit der Encyclopedia Britannia und als sie vor das Haus tritt, ist Katy verschwunden. Vielleicht mitgenommen von Leuten, die glaubten, sie wäre zurück gelassen worden. Neve schreit ihren Namen, wieder und wieder, während sie sich den Weg zum Hafen zurück erkämpft. „Ist Katy bei dir?“ ruft sie weinend vom Pier zur Reling des Schiffes hinauf. Lisbeth schüttelt den Kopf: “ Du musst jetzt kommen, schnell“. Wieder schreit sie Neve an. Die Crew hat die Festmacher gelöst und der Dampfer beginnt sich vom Kai zu lösen. Auch viele andere Passagiere rufen von der Reling hinunter zu Neve: „Nun komm, spring, spring…“. Hinter Neve drückt eine verzweifelte Menge gegen sie. Ihre Hände haben sich um die Koffergriffe verkrampft. Sie verliert die Nerven. Mit einem verzweifelten Schluchzer springt sie an Bord.

Seitdem haben beide Schwestern kein Wort mehr gewechselt. Lisbeth hat das Leben genommen, wie es kam. Und versucht, es einfach zu leben. Mir Trauer und Freude. Ja, auch mit Freude. Neve hatte alles Fühlen aus ihrem Sein verdrängt. Sie hatte nicht gehandelt, wie eine Mutter es hätte tun sollen. Es war gleich, ob irgend jemand verstand, was geschehen war oder weshalb. Wo immer Katy war, wenn sie überlebt hatte – sie wäre bei besseren Menschen. Ihre Seele wurde so gleichmütig wie die See. Sie atmete mit Ebbe und Flut und tat das ihre, um für die Gemeinschaft zu sorgen. Nicht mehr und nicht weniger.

Lisbeth schweigt still. Der Pastor hält ihre Hand: „Wir werden jetzt für sie da sein, was immer auch geschieht.“ „Was soll aus dem Kind werden? Ich glaube nicht, das Neve für sie sorgen kann…“ Ich weiß nicht, wie wir damit leben sollen…“ Jamie lachte ganz leise: „Kinder sind nicht so kompliziert. Siehst du nicht, dass wir hier eine Familie haben? Eine richtige Inselfamilie. Einfach etwas, wo ein Kind hingehören kann. Und bleiben darf. Und wachsen kann. Viel mehr ist nicht nötig. Und Neve? Ich bin ehrlich, Lis, ich weiß es nicht. Die Zeit wird es zeigen. Aber du Lisbeth, du wirst eine wundervolle Tante sein. Du Lis, du und ich, wir blicken nach vorn. Wir werden es richtig machen.

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