Nur einen Steinwurf voneinander entfernt lagen die Orte, zwischen denen dieser Brief seinen Weg durch Ostpreußen machte. Heute braucht man über 90 Minuten mit dem Auto, weil es einen großen Umweg über den nächsten Grenzübergang zwischen Russland und Litauen braucht. Ein genauerer Blick auf den Brief, dessen Inhalt leider verloren ging, bringt uns auf spannende Spuren der Geschichte.

Der vorgedruckte Briefumschlag – ob nun offiziell oder privat eingesetzt – stammt vom Land- und Forstwirtschaftsamt, Kreisabteilung Niederung, Reatischken, Postscheckkonto Königsberg.
Er ist mit einem Briefporto von 12 Reichsmark beklebt. Da dem Absender wohl die großen Marken ausgegangen waren, brauchte er dafür ganze 27 Marken und nutze dafür auch die Rückseite des Umschlags. Tatsächlich ist jede einzelne Marke abgestempelt. Was uns zum Zeitpunkt des Versands bringt. Die 1921 herausgegebene Marke wurde hier mit dem 8.12.1922 gestempelt.
Reatischken war zu dem Zeitpunkt ein Ort von ca. 130 Einwohnern, der um ein Gut herum gewachsen war. Er lag nordöstlich von Königsberg. Reatischken wurde 1938 in Budeweg umbenannt und gehört seit 1945 unter dem Namen Aisty zur Oblast Kaliningrad.

Der Bestimmungsort des Briefes ist das Postamt in Groß Schillenigken, ein Ort im Memelland, der zum Zeitpunkt des Briefes bereits zu Litauen gehörte, nachdem im Februar 1920 die letzten deutschen Soldaten abgezogen waren und französische Soldaten als Ergebnis des Versailler Vertrags dort einmarschiert waren. Im Dezember 1922, genau 12 Tage nach Zeitpunkt dieses Briefverkehrs wurde Litauen völkerrechtlich von den Allierten als unabhängig anerkannt. Die Grenzen waren noch nicht genau festgelegt. Litauische Freischärler besetzten das Gebiet, um der Idee einer Freistaatgründung zuvorzukommen. Geklärt wurde das alles erst 1924. Das Memelland wurde Litauen zugesprochen, behielt aber eine umfassende Autonomie.
Zurück zu Fräulein Anna. Ich konnte keine Angaben zur Größe von „Groß“ Schillenigken finden, aber die Adressierung ans Postamt des Ortes lässt wohl vermuten, dass er nicht allzu groß war. Wusste doch wohl der Briefbote, wo Fräulein Anna zu finden war. Vielleicht wohnte sie auf einem der vielen Höfe außerhalb.
Die Schrift der Adresse ist nicht die damals übliche Schreibschrift, sondern eine der gedruckten Schrift nachempfundene „Druckschrift“. Was den offziellen Charakter des Dokuments bestätigen könnte. Also keine Liebesgeschichte zwischen einem Reatischkener und dem Fräulein. Ist ja vielleicht auch besser so, denn kurz nach diesem Schreiben verlief eine Grenze zwischen den beiden.
Heute sind an dieser Stelle nur noch Reste eines alten Zollhauses zu finden.