Urlaub vom Leben

Etwas läuft da schief: Im Kopf

Seit ziemlich genau einem Jahr bin ich jetzt Rentner. Offiziell alt, Risikogruppe, ausgemustert, nur noch dazu da, den Gesundheitsbetrieb aufrecht zu erhalten und mein Geld auszugeben. Ich glaube, wählen darf ich auch noch. Nein, ehrlich, es ist einfach so, dass ich nicht mehr arbeiten muss. Was ich nach einem langen, erfolgreichen und oft auch abenteuerreichem Arbeitsleben zum Schluss auch gar nicht mehr gern wollte. Finanziell ist das alles so ok. Weltreisen und Kreuzfahrten sind gerade sowieso out und ich komme zurecht. Der Druck ist weg. Sollte man denken.

Dass Rentner nie Zeit haben und vollbeschäftigt sind, ist ein böser und sooo blöder Spruch. Leider ist da was Wahres dran. Irgendwie kommt man aus dem ewigen TunMüssen nicht raus. Aus dem EineAufgabehaben, aus dem Sichnützlichmachen. Ok, ich habe gelernt, morgens nicht mehr los zustürzen, die erste Tasse Kaffee im Garten zu trinken und dann ein bisschen zu bloggen, während es noch still ist um mich herum. Ok, ich habe meine Pferde abgeschafft, was nicht nur mit TunMüssen und JedenFeiertagmisten,weildadiePolenauchmalfreihaben zu tun hatte, sondern auch mit SichständigSorgenmachen.

Warum zum Teufel mutieren jetzt Sachen, die man ein Leben lang nebenbei gemacht hat (Malebendurchwischen, EinpaarStrümpfe kaufen) zum Projekt, das im Kalender eingetragen und mit einer Zeitdauer versehen wird? Das kann kaum daran liegen, dass man innerhalb von wenigen Monaten gebrechlich geworden ist und Ansätze von Demenz zeigt. Da läuft etwas schief. Im Kopf.

Google und der Scheich von Persien

Richtig ist aber auch, dass so noch und noch Sachen hochkommen, die „man schon immer mal machen wollte“. Ist wirklich wahr. Viele davon habe ich einfach vergessen, weil ja nie Zeit war und es auch nicht wichtig war fürs Überleben. So ein Projekt ist es dann, sich mit der Entwicklung der Schreibschrift zu beschäftigen oder den Hexenprozessen. Und ihr wisst ja, wenn man dann recherchetechnisch einmal vorm Bildschirm sitzt, in Büchern stöbert und dann wieder bloggt: Da gehen Tage drauf. Ganz ohne wischen und Strümpfe.

Ich muss es hier einmal bekennen: Ich liebe Google. Wir waren immer schon eine Lexikon Familie, aber jetzt ist es natürlich viel besser. Wissen ist Macht. Mag sein. Für mich ist Wissen Spaß. Ich ziehe mir neues Wissen rein wie eine Droge. Klar bleibt da nicht alles hängen, aber es macht mir zutiefst Freude, etwas endlich zu wissen, es zu verstehen. Tante Google sitzt bei uns am Frühstückstisch, ob wir eine Pflanze bestimmen wollen oder´- wie alle 4 Jahre wieder – versuchen, das amerikanische Wahlsystem zu verstehen. (Abstecher: wir sitzen hier und drücken uns die Daumen platt für Opa Biden, der es sich fest vorgenommen hat mit 77 noch Präsident zu werden und die Welt von einem Übel zu befreien.) Am allerbesten ist unnützes Wissen. Wieso war Persien einmal der Hauptlieferant von Schafsdärmen? Und überhaupt: Persien? Wo war denn das genau? Und was fällt uns dazu noch ein? Aladin, Harem, Eunuchen? Wo spielte Tausendundeine Nacht? Hach, unnützes Wissen mundet gar köstlich.

Seien wir fair. Googeln kostet Zeit. Und dann sitze ich nach einem Vormittag des Googelns da mit einem schlechten Gewissen. Zeitfresser! Aber wieso eigentlich. Das Haus ist sauber, das Dorfprojekt ruht, die Garage ist aufgeräumt.

Eine Genehmigung muss her

Wolkenschieben z. B. – wundervoll unnütz


Wen muss ich anschreiben, damit er mir die Erlaubnis erteilt, morgens um 10.00 auf dem Sofa eine uralte Folge „Law & Order“ zu sehen, den Nachmittag auf dem Liegestuhl zu verschlafen, 4 Stunden lang über den Lebenszyklus der Schmetterlinge zu googeln und mitten in der Nacht, wenn schlaflos, Kuchen zu backen? Stundenlang an einem Foto herum zu basteln, bis es mich zufrieden stellt oder eben mal einfach nichts zu tun. Die Stunden verstreichen zu lassen, ohne auf die Uhr zu sehen. Zu tun, was einem einfällt oder eben nicht. Zu tun, was sich gerade gut anfühlt. Wer erteilt mir die Genehmigung nutzlos zu sein?

Bei Artlandya wurde vor einer Weile aus einem Stern Artikel der Kolumnistin Meike Winnemuth zitiert:
„Nicht mit mir, Freunde. Ich tue nichts, und morgen werde ich dafür auch nicht mehr tun als sonst. In keiner Weise nützlich sein heißt auch: sich überflüssig machen. Man trägt nichts zum Gelingen des Tages bei, zum Fortbestand der Menschheit, zum Weiterrattern der Welt. Es ist komplett egal, ob man existiert. Ist das der Grund, warum so viele Leute die Tatenlosigkeit nicht ertragen? Weil es uns so schmerzhaft bewusst macht, wie entbehrlich wir alle sind?
Das sind die besten Tage: die geschwänzten, lustvoll verweigerten, trotzig verplemperten Tage, an deren Ende man keine Ahnung hat, wo die Zeit geblieben ist. Ein Gefühl wie damals, wie große Ferien, wie ein einziger endloser Sommernachmittag.“

Von solchen endlosen Sommernachmittagen hätte ich gerne mehr. Und nein, dazu muss ich niemanden um Erlaubnis anschreiben. Die Erlaubnis muss ich mir selbst erteilen. Und das ist manchmal gar nicht so einfach. Das Leben zu genießen war so viele Jahre lang etwas, was man tat und tun konnte, weil man den anderen, oft den größten Teil seines Lebens lebenswichtig produktiv war. Eine Belohnung sozusagen.

Jetzt kann ich mich immerzu belohnen. Produktiv sein ist ein Kann, kein Muss mehr. Was ich produziere muss nicht verkäuflich oder zu verwerten sein. Nichtstun ist immer erlaubt. Wissen darf unnütz sein. Muße und Achtsamkeit sollten etwas tägliches sein. Erlaubnis erteilt. Ich arbeite dran.

Hier der Link zum Stern Artikel. Und hier der Link zu Artlandya, dem sehr schönen Teneriffa Blog von Ingrid, in dem ich das Zitat gefunden haben.

9 Gedanken zu „Urlaub vom Leben

  1. Also ich bin noch im Arbeitsleben und kann über das Rentnerdasein eigentlich gar nichts sagen aber ehrlich nach fast 47 Arbeitsjahren ohne Unterbrechnung reicht es ! Ich freue mich drauf und 2021 ist es soweit !

  2. Deine Beschreibung der Situation ist genial! Ich bin zwar noch nicht in dieser Phase – aber mir geht es jetzt schon oft so. Wissen macht Spaß – aber beim Stöbern gerate ich irgendwie sehr oft in einen Strudel, der einfach nur Zeit frisst 🙂 Gratuliere zu diesem tollen Artikel!

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