Die Insel: Der Brief

Der Pastor macht sich Sorgen. Natürlich besucht er Neve jede Woche, doch seitdem sie weiß, dass da etwas läuft zwischen ihm und Lisbeth, ist sie sehr schweigsam geworden. Und wenn das überhaupt geht, so ist sie noch dünner und durchscheinender geworden, findet der Pastor.

Und Ben, der nie von ihrer Seite gewichen ist, hat angefangen, durch das Dorf zu stromern. Er trifft morgens Callum und Oke am Kai, wieselt um den Hühnerstall von Tante Lovely und weiß genau, dass bei Lisbeth immer etwas für ihn abfällt. Hat er Hunger? Pastor fragt vorsichtig Neve danach. Und es sieht so aus, als hätte sie an manchen Tagen einfach vergessen, dass der Hund da ist. Dabei ist aus dem kleinen Wollknäuel inzwischen ein beachtliches Fellbündel geworden.

Sie singt auch nicht mehr. Gar nichts mehr. Niemand weiß, was damals zwischen den Schwestern vorgefallen ist. Und niemand fragt danach. Weil niemand über das Damals spricht. Oder über das, was sie einmal waren oder das, was sie tun mussten, um es bis hier hin zu schaffen. Es war, als ob die See, die Neve einmal getragen hat, dabei war, sie zu verschlingen.

Und dann kommt der Brief. Zerknittert und etwas feucht liegt er in Tevs Hand.

An der Anschlagtafel am Festland, auf der noch immer Menschen ihre Angehörigen suchten, war ein großer, offiziell aussehender Aushang. Die lange Liste, die von allen Kinderheimen des Councils zusammengetragen worden war, enthielt für jedes Kind oft nur Bruchstücke von Informationen: geschätzes Alter, Vornamen der Eltern, Schulen, besondere Fertigkeiten, besondere Merkmale, Besonderheiten aus ihrer Geschichte. Und weil gerade ein Moment Zeit war zwischen den Ladearbeiten, wanderte Tevs Blick über die Liste.

Mädchen, blond, Alter ca. 7 oder 8 Jahre. Gefunden Ardenaugh. In Betreuung seit ca.3 Jahren. Spricht nicht. Kennt gälische Kinderlieder und singt sie. Gefunden als Bleistifteintrag in einer Gedichtesammlung über das Meer, die das Kind bei sich trug: Neve M’Ruadh oder Neve MacRuadh.

Tev war wie vom Donner gerührt. Konnte das Neve sein? Die stille, traurige Neve von der Insel? Hatte sie damals ihr Kind verloren? War es verloren gegangen, von der Mutter gerissen in dem verzweifelten Treck von Menschen, der damals zur Küste strebte, zu den letzten Booten? Das Heim, das als Adresse angegeben war, lag nicht weit außerhalb der Stadt. Eine halbe Stunde Fußmarsch brachte Tev an sein Ziel. Die Nonnen warnten ihn, sich nicht zu viel Hoffnung zu machen. Er erhielt einen Brief: mit einem Foto, allen Daten, die sie hatten und einen kleinen Bericht über das stumme Kind, das sie Selkie genannt hatten, da es stundenlang schweigend stehen und auf das Meer schauen konnte und darüber hinaus schwimmen konnte wie ein Seehund. Tev schaute stumm auf die ungeheure Fülle flachsblonder Haare und die durchscheinend blasse Haut.

Tev lässt sich Zeit, als der Dampfer am Kai anlegt. Die Mannschaft murrt, ob des Aufenthalts auf einer Insel, wo es nichts zu tun gibt für sie. Aber Tev hat eine Flasche Whiskey in seiner Kabine und Pal, Callum und der Pastor organisieren spontan ein Fisch BBQ auf dem Kai.

In Tante Lovelys Küche duftet es schon verführerisch. Als sie Tevs Gesichtsausdruck sieht, zieht sie die Töpfe vom Feuer. Sie arbeitet sich langsam durch die Unterlagen, die Tev ihr hinhält. „Das ist ihr Name“, ist Tante Lovely sich sicher. Und diese Ähnlichkeit. Lovely nimmt Tevs Hand und gemeinsam gehen sie langsam auf Neves Haus zu.

Es gibt keine Bekenntnisse in dieser Nacht. Und keine Erkenntnisse. Nur Tränen und dieses bebende Schweigen, das von einer Last zeugt, die zu groß ist für ein Menschenherz. Das zeugt von einer Schuld, die niemals getilgt werden kann. Von einer Aufgabe, die zu groß ist für das Wesen Mensch. Von dem Zugeständnis des Versagens. Von der Nicht Tapferkeit. Von den Zweifeln. Von Verlust und zerrissenen Herzen. Dieses bebende Schweigen, das davon zeugte, das das Menschsein in Stücke gerissen worden ist und keiner um seine Heilung weiß.

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