Die Insel: Die besten Entscheidungen trifft man bei einer starken Tasse Tee

Wenn nicht sowieso so manches auf der Insel ein wenig seltsam und winkelig wäre, könnte man das, was an diesem Morgen passiert glatt als konspiratives Treffen bezeichnen. Lisbeth schwingt sich beim ersten Licht aufs Fahrrad, saust den Hügel hinunter und klopft an Tante Lovelys Tür und flüstert mit ihr. Sie versucht es auch mal bei Pal, erwartet aber keine Antwort. Das Fahrrad bleibt am Wegrand liegen als sie wieder den Hügel hinaufklettert zu Richies Haus, um Callum und Pal aus den Federn zu werfen. „In 10 Minuten in der Kirche“, ruft sie durch die Tür und findet, dass sie die Zeit für die Morgenwäsche großzügig bemessen hat.

Als die zwei endlich an der Kirchentür auftauchen, stellt Pastor Jamie gerade eine Kanne dicken, schwarzen Tee auf den Tisch, Inseltee. Natürlich hatten alle Neuheiten schon die Runde gemacht. Nur Lis muss ihre und Neves Geschichte noch einmal erzählen. „Es ist ja ganz klar, dass Katy hier zu uns gehört und schnellstens geholt werden muss“, endet Lisbeth. „Es ist aber auch klar, dass wir uns um ein paar Dinge kümmern müssen, die bisher nicht auf der Liste standen. Der Pastor zählt auf: „Zum Beispiel braucht ein Kind ständig neue Kleidung, eine Ausbildung, wir haben keinen Arzt in Reichweite. Und letzten Endes sollte ein Kind auch mit anderen Kindern zusammen sein.“

„Nun“, antwortet Tante Lovely, „da wird wohl jemand hier nähen müssen, ein anderer die Schulausbildung leiten und es mag sein, dass wir beginnen müssen, Abstecher nach Quadraigh oder aufs Festland zu machen. Schließlich haben wir ein Boot. Alles in allem bedeutet es sicher, über kurz oder lang ein wenig von unserer Abgeschiedenheit zu opfern. Aber es gibt doch gar keine Alternative, oder?“

Pastor Jamie sieht seine Lis an, greift nach ihrer Hand und sagt: „Wisst ihr; wir haben uns ernsthaft Gedanken gemacht. Auch darüber, wie die Zukunft für uns beide aussieht. Wir wollen auf jeden Fall hier bleiben und wir glauben, dass die Insel auch ganz vorsichtig wieder wachsen sollte. Wir würden gerne einen Jungen in Katys Alter aus dem Waisenhaus adoptieren. Einen Jungen, der beide Eltern verloren hat. Wir glauben, dass die Insel und unsere Gemeinschaft ein gutes Umfeld für ein Kind sind, um erwachsen zu werden. Mit dem Schulstoff werde ich schon fertig. Viel wichtiger scheint mir, was sie hier sonst noch lernen können.“

„Das hast du gut gesagt“, alle schauen erstaunt auf Callum. Und der ist noch nicht fertig: „Sie können lernen sich selbst zu versorgen, einen Gemüsegarten zu bebauen, Fische fangen und Hummer, ein Boot zu steuern, Ziegen zu melken, Käse zu machen, Muscheln zu sammeln, Häuser zu reparieren, Essen zu kochen und für den Winter zu sorgen, einen Motor zu reparieren. Sie werden Bücher lesen und alles aus ihnen lernen, was sie sonst noch lernen wollen. Wir werden einen neuen Computer kaufen und sie können alles sehen, was die Welt zu bieten hat. Und dann können sie eines Tages entscheiden, was sie tun und wohin sie gehen wollen. Aber hier werden sie sicher sein. Und geliebt. So ein Kind wäre ich gern gewesen.“

Alle schweigen. Ob aus Erstaunen über Callums ungewöhnliche Beredsamkeit oder weil sie nachdenken über das, was sie gehört haben. Pal mischte sich ein und was er sagt, macht den neuen Weg, den die Inselgemeinschaft gehen würde, perfekt: „Ihr habt Callum gehört. Wir denken, dass gerade jetzt ein Kind es kaum irgendwo besser haben könnte. Wir möchten auch einem Kind ein Zuhause geben. Wir bekommen das hin. Wir alle. Callum und ich haben schon vor einer Weile mit einem Anbau begonnen. Richies Haus bietet mehr Baustoff als wir jemals brauchen.“ „Und wir werden in das Haus von Lis ziehen“, meinte der Pastor. „Es ist groß genug“.

Sie sehen sich an. Da hat gerade etwa Neues begonnen, etwas ganz Großes. Etwas, das gesiegt hat über die Angst. Etwas, das sie veranlasst über den eigenen Schatten zu springen. Und es wird möglich, weil sie es gemeinsam tun.

„Was ist mit Neve?“, fragt Lisbeth. „Wir werden für sie da sein, wenn sie es braucht. Katy wird bei ihr wohnen, alles wird sich entwickeln. Manches wird einfach seine Zeit brauchen. So viel wird daran hängen, was geschieht, wenn Katy ihr gegenüber steht“, der Pastor seufzt. „Um fair zu sein: ich weiß nicht, was geschehen wird, aber wir alle können nur da sein, bereit zu helfen.“

Tev Truth, der eigentlich in all dem nur eine Nebenrolle spielt, ist fasziniert. An Gespräche wie diese kann er sich nicht einmal erinnern. Er sieht auf die Frau, mit der er die Nacht verbracht hat, und liebt sie um so mehr für ihren Platz in dieser Gemeinschaft. Nur dass es nicht seine ist. Er ist der ewige Pirat. Sein einziger Besitz die schwankenden Planken auf See. So viel Seelen, die auf ihn zählen. Er würde für diese Menschen hier tun, was er konnte. Dazu gehören könnte er nicht.

Noch zehn Tage würde die die Inselrunde von Tevs Dampfer dauern, bis sie wieder auf dem Festland landet. Sie beschließen, das Heimholen der Kinder Lisbeth und Pal zu überlassen. Beide sind lange nicht mehr von der Insel fort gewesen. Und Pal trägt das Trauma von endlosen Stunden in kalten, dunklen Wellen in sich. Aber sie haben eine Mission. Und sie sind froh. Und sie haben sich und ihre gemeinsame Zuversicht.

Tante Lovely weiß gar nicht, was sie alles fühlen soll, als sie den Dampfer davon ziehen sieht.

4 Gedanken zu „Die Insel: Die besten Entscheidungen trifft man bei einer starken Tasse Tee

  1. Ich muss ja gestehen, dass ich im Einzelnen immer noch nicht so ganz kapiere, wer mit wem und warum und überhaupt. Du hast nicht zufällig eine Skizze der handelnden Personen und ihrer Verflechtungen untereinander?

    1. Hmm, wenn du in der oberen Leiste auf die Zusammenfassung aller Beiträge gehst, findest du im Artikel No1 eine Darstellung der Personen (ohne Pal, der kommt später hinzu). Ihre Verflechtungen entwickeln sich ständig, also musst du mal 30 Min Lesestd einlegen und alles noch mal überfliegen.
      In Kürze: Tante Lovely ist immer noch einsam, aber Tev Truth, der Dampferkapitän ist interessiert. Callum ist jetzt mit Pal dem Schiffbrüchigen zusammen. Der Pastor steht zu seiner Lisbeth mit dem zu knappen gelben Pullover. Neve lebt mit dem Hundewelpen Ben. Lisbeth und Neve reden nicht mit einander, eben deshalb. Das sind doch nur 6 Personen und bald kommen die Kinder dazu. Ach so, da ist noch Oke der Rabe, der hat keine Verflechtungen.

      1. Dankeschön 🙂 Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich von Callum und Pal noch kein allzu scharfes Bild habe und außerdem jedes Mal überlegen muss, ob jetzt Pal oder Ben der Hund ist … Die Namen sind einfach zu ähnlich :-O

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