Leseecke: Freud kommt nur am Rande vor

Es ist eine Menge geschrieben und noch mehr spekuliert worden über Sigmund Freuds bekannteste Hysterie Patientin, meist „Dora“ genannt. Dabei auch so viel Widersprüchliches, dass bis heute nicht so richtig klar ist, ob Ida – wie sie eigentlich heißt – Opfer oder Heldin ist.

Katharina Adler hat der Geschichte ihrer Urgroßmutter nachgespürt und ein packendes Buch geschrieben über eine komplizierte, aber auch mutige jüdische Frau mitten im Wandel der Zeiten. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beschreibt das Buch Idas Weg durch diese Wandelzeiten. Mich faszinierte die Beschreibung einer Familie der österreichischen Gesellschaft: von ihren Moralvorstellungen bis hin zu ihren politischen Einstellungen. Und wie sehr die Geschehnisse der Zeit auch für diese Familie alles verändern.

Couch im Freud Museum: Secretlondon, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Sicher ist Ida eine Frau, die sich schwer tut mit sich selber, der Prozess ihrer Analyse ist quälend zu lesen. Sie hat den Mut, diese Analyse abzubrechen und sich dem Leben mit dem zu stellen, was sie selbst aus sich machen kann. Ich möchte ihr ein „Bravo“ hinterher rufen. Katharina Adlers Darstellung der Analyse ist nun wiederum Gegenstand aller möglichen Bewertungen verschiedenster Psychoanalytiker. Da mische ich nicht mit.

Ida ist keineswegs eine liebenswürdige Person. Sie hadert mit ihrer Rolle in einer von Männern dominierten Welt. Sie tut sich zu schwer, um Heldin zu sein. Aber als Opfer will sie sich niemals sehen. Eigensinn ist ihre Antwort. Sie emanzipiert sich.

Für mich ist dieses Buch ein Portrait dieser Zeit, spannend zu lesen, in welche gesellschaftlichen Verhältnisse die Anfänge der Psychoanalyse fielen. Spannend die Geschichte der österreichischen Sozialisten. Spannend und quälend der Einbruch der Nationalsozialisten in das Leben der jüdischen Familie. Und Stück für Stück baut sich beim Lesen Nähe, nicht zwangsweise Sympathie auf zu dieser oft unbequemen und starrsinnigen Frau.

Wer dieses Buch wegen Freuds und Idas Geschichte gekauft hat, wird enttäuscht. Es ist eine Familiengeschichte, ein Zeitportrait mit vielen interessanten Puzzleteilen. Und sicher auch eine Wiedergutmachung. Indem es Ida eine Geschichte gibt, die weit mehr ist als eine Patientengeschichte.

Katharina Adler: Ida. Rowohlt 2018, ISBN 978 3 498 00093 6

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