Östliches Taglied
Ist dieses Bette nicht wie eine Küste,
ein Küstenstreifen nur, darauf wir liegen?
Nichts ist gewiß als deine hohen Brüste,
die mein Gefühl in Schwindeln überstiegen.
Denn diese Nacht, in der so vieles schrie,
in der sich Tiere rufen und zerreißen,
ist sie uns nicht entsetzlich fremd? Und wie:
was draußen langsam anhebt, Tag geheißen,
ist das uns denn verständlicher als sie?
Man müßte so sich ineinanderlegen
wie Blütenblätter um die Staubgefäße:
so sehr ist überall das Ungemäße
und häuft sich an und stürzt sich uns entgegen.
Doch während wir uns aneinander drücken,
um nicht zu sehen, wie es ringsum naht,
kann es aus dir, kann es aus mir sich zücken:
denn unsre Seelen leben von Verrat.
Rainer Maria Rilke. Aus: Neue Gedichte 1907
Die letzte Zeile lässt aufhorchen und bestätigt, was ich schon bei den ersten Zeilen spürte: der Dichter begeht „Verrat“ an der Geliebten, indem er sich seelisch von ihr entfernt, um aus der Liebesnacht ein Gedicht herauszudestilieren. Und er weiß es.
Ja, das ist ganz sicher so. Von Beginn an schweifen seine Gedanken …
Habe ich gerade durch Zufall gefunden und ich finde, es passt:
Du meine heilige Einsamkeit,
du bist so reich und rein und weit
wie ein erwachender Garten.
Meine heilige Einsamkeit du –
halte die goldenen Türen zu,
vor denen die Wünsche warten.
Rainer Maria Rilke . 1875 – 1926