Die Insel: Ein schöner Hahn

Tev Truth macht mit dem Signalhorn genug Lärm bei der Einfahrt in den Hafen, um die Inselbewohner aufzuschrecken. Die stehen dann auch aufgeregt am Kai und können das Anlegemanöver kaum abwarten. Tev heißt einen Schiffsburschen, die Leute unter Deck zu den Ziegen zu bringen und fischt sich Tante Lovely aus der zappeligen Gruppe heraus. „Ich hab da noch was für dich“, sagt er. Tante Lovely wirft der wuselnden Gruppe einen besorgten Blick hinterher. „Drei Leute und drei Ziegen“ brummelte Tev. „Sollte sich doch wohl ausgehen, auch ohne dich, oder?

Tante Lovelys Neugier ist geweckt und sie folgt ihm brav. Tev hat die Hühner in ihren Käfigen aufs Vordeck bringen lassen. Dort krakeelen sie seitdem vor sich hin, protestierend nach den Tagen unter dem Deck, wo sie ruhig in der Dunkelheit kollerten und gluckten. Von einer Überraschung kann kaum mehr die Rede sein. „Sind deine“, brummt Tev und zeigt ihr die kleine Hühnerschar. Tante Lovely bekommt den Mund nicht mehr zu: „Mensch Tev, gerade neulich haben wir uns darüber unterhalten… Wie konntest du wissen…?“ Sie betrachtet die Vögel, als wären sie das Schönste, was sie jemals gesehen hat. Dann dreht sie sich um und fällt ihm um den Hals.

Tev Truth besteht darauf, ihr zu helfen, das Geflügel heim zu schaffen. Mit dem laut krähenden Hahn in der Hand stolziert er hinter Lovely her bis in ihrem Garten, wo sie die Käfige erst einmal absetzen. „Komm kurz rein“, Lovely will unbedingt noch mit irgendetwas Danke sagen. Während sie in ihrem Küchenschrank sucht, schwatzt sie vor sich hin: „Mal schauen, wo sind denn die Marmeladen? Würde dir so gern mal was kochen, aber du musst ja immer gleich weiter, immer unterwegs…“ „Ich könnte ja mal ne Nacht bleiben…“ – irgendetwas in Tevs rauer Stimme lässt Lovely innehalten. Eine Nacht bleiben? Tev war immer auf See. Tante Lovely wusste, dass der Dampfer schon mal zwei, drei Tage am Festland lag. Und dass Tev auch mal ein paar Tage auf seiner Runde einplante, um auf einer der Inseln zu bleiben, wo es ein Pub gab oder sogar ein Hotel mit richtiger Dusche. Aber hier?

Sie dreht sich langsam um und betrachtete Tev. Er war ein großer, stattlicher Mann, der sich auf seinem Boot bewegte wie ein Junger, auf Land aber immer etwas unbeholfen schien, als fehle ihm das Schwanken unter seinen Füßen. Sein Gesicht war wettergegerbt mit Hunderten von Falten, sein Haar längst grau. So viele Menschen hatten sich daran gewöhnt, dass Tev Truth immer da war, wenn es galt ein Problem zu lösen. Er war der erste gewesen, der damals einen regelmäßigen Kontakt zwischen den Inseln wieder herstellte und so ganz wesentlich dazu beigetragen hatte, dass das Leben weiter gehen konnte.

Lovely sieht eine große Müdigkeit um seine Augen herum. Und eine Sehnsucht. So eine, wie sie sie auch spürt, wenn sie es zulässt. „Also gut“, sagte sie leise. Sie geht auf ihn zu und nimmt seine Hände: „Das würde mich aber wirklich freuen“. Sie lacht ihn an: “ Ich könnte tatsächlich Eierkuchen machen, wenn die Damen was taugen, die du mir angeschleppt hast“. Tev fühlt sich erwischt. Steht da etwas „Eierkuchen“ auf seiner Stirn? Und was kann man da noch alles lesen? Er wird rot. Seine Hände sind plötzlich ganz warm in ihren.

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