Die wunderbarste Schule der ganzen Welt

„Dürfen wir zuerst etwas sagen?“, bittet Liam, als sie Abends alle zusammen in der Kirche sitzen. Die Großen nicken.

„Ihr habt ja gemerkt, dass hier etwas vorgeht. An euch, aber vor allem bei uns. Wir entwickeln Fähigkeiten, die sehr unterschiedlich sind und vor allem weit entfernt davon perfekt oder zu etwas nütze zu sein. Wir konzentrieren uns auf bestimmte Dinge und versuchen, sie zu üben, sie zu verbessern. Aber das ist ungeheuer anstrengend und es klappt auch nicht immer. Jeder scheint in etwas anderem gut zu sein. Manchmal geht es um die Beherrschung von Elementen, dann wieder darum, etwas vorher zu wissen oder von jemand anderen zu wissen, wann er Hilfe braucht, obwohl er nicht in der Nähe ist.

Wir finden es im Moment mehr verwirrend als hilfreich, aber unter Druck hat es Katy zum Beispiel geholfen. War müssen zuerst lernen, es zu kontrollieren, es eben nicht einzusetzen, vor allem nicht, wenn Fremde dabei sind.“

Katy übernimmt jetzt: „Ihr glaubt, es hat etwas mit dieser Insel zu tun. Wir glauben, sie verstärkt es nur. Wie jeder Ort, an dem Magie wohnt, es verstärken würde. Was wäre, wenn das Virus nicht so völlig wahllos zugeschlagen hätte, wie es den Anschein hatte? Wie, wenn Menschen mit bestimmten Anlagen für das Virus uninteressant gewesen wären? Ich konnte damals nicht damit anfangen, aber ich schwöre euch, dass da im Kinderheim mehr von uns waren… Kinder, die sich nicht so verhielten wie man es erwartete, Menschen, die „seltsam“ waren, schwierige Menschen, mit denen man nicht so einfach zurecht kam und die man lieber mied. Dahinter steckten vielleicht häufig solch besondere Fähigkeiten, mit denen die Menschen nicht zurecht kamen.“

Neve sieht ihre Tochter an: „Ihr meint, es könnte sein, dass das Leben nach dem Damals nie mehr dasselbe sein wird wie zuvor? Weil es jetzt so viele Menschen mit besonderen Fähigkeiten gibt?“ „Ja, sagt Katy, „das glauben wir.“

Das Schweigen dauert sehr lange. Die Vorstellung ist zu fremd. Dann sagt der Pastor: „Das würde wirklich alles ändern, nicht wahr? Es würde seine Zeit dauern, aber gar nichts mehr wäre wie vorher.“ Lisbeth sieht ihn an: „Die Implikationen sind weitreichender, als wir uns das jetzt in Kürze vorstellen können, nicht auszudenken…“

Joshua blickt in die Runde und sagt: „Wir wollen, dass ihr uns helft.“ „Helfen, wobei“, fragt Tante Lovely. „Mehr von uns zu finden.“

Liam übernimmt wieder: „Wir wollen diese Insel nicht verlassen. Wir werden bleiben und von hier aus lernen. Ihr habt uns einen neuen Computer versprochen. Den brauchen wir jetzt. Und wir werden an unseren neuen Fähigkeiten weiter arbeiten.
Wir wissen, dass es auf unserer Insel bald mehr Menschen geben wird. Wir haben euch gut zugehört. Wir möchten jetzt, dass ihr rausgeht und diese Menschen für uns sucht.“

Pal hat schon verstanden: „ Du meinst, solche wie euch? Seltsame Menschen, Kinder, die nicht sein dürfen, was sie sind, Eltern, die verwirrt sind und Kinder, die sich vor sich selbst fürchten? Oder solche, die es wie ihr längst kapiert haben?“

„Ja, ganz genau.“ Katy hat noch mehr auf Lager: „Aber sie müssen uns auch nützen. Fähigkeiten mitbringen, die uns hier fehlen. Wir brauchen zwei oder drei mehr Lehrer, Techniker, Baumeister, das wisst ihr besser als wir. Sie sollen helfen, die Insel gedeihen zu lassen und sie auf immer unabhängig zu machen.“

„Und wir bekommen die wunderbarste Schule der ganzen Welt“, ruft Joshua. „Yep“, ergänzt Liam. „Wir werden die üblichen Lehrfächer um so einige erweitern.“

Der Pastor zählt auf: „Mathematik, Grammatik, Fischen, Käsen, Wasser mit Geisteskraft bewegen und in die Zukunft sehen“. Lisbeth gluckst: „Das ist ja besser als in Hogwarts.“ Die Runde bricht in Lachen aus. Nur Joshua und die Zwillinge wechseln in ihrem Gesichtsausdrücken zwischen verwirrt und beleidigt. Tante Lovely verspricht, das Buch für sie aufzutreiben und Katy gelobt, die Geschichte in den nächsten Tagen zumindest in Auszügen an die Ahnungslosen weiterzugeben.

Aber die Sache ist mehr als ernst. Das ist weit mehr, als sich um das Wohl einer kleinen Gemeinschaft zu kümmern. Es bedeutet ein Mal mehr, alle Sicherheiten über Bord zu werfen. Und hinaus zu gehen. Mehr Verantwortung zu übernehmen. An einem Punkt, an dem eigentlich alles endlich etwas leichter geworden war, sich aufs Neue ins Ungewisse zu stürzen. Was den Kindern als eine leuchtende Aussicht erschien, machte den Erwachsenen Angst. Ein weiteres Mal schien die Welt ihnen zu entgleiten. Aber hatten sie ein Wahl?

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