Es gibt so viele Arten zu reisen.
Gerade reise ich durch Hamburg. Nicht durch die besten Viertel zugegeben, der Malzgeruch aus der Brauerei driftet durch die engen Straßen und vermischt sich mit dem Aroma von Kohlsuppe und Holzfeuer. Es ist 1919 im Gängeviertel. Die Frauen, eben vom Korsett befreit, tragen den „Reformsack“, die KPD ist frisch gegründet, Butter, Wurst und Speck sind Luxusgüter. Unruhe liegt in der Luft – und Aufstand und Mord. Das wird eine spannende Reise, auf der ich viel Neues sehe und erleben werde. Ich kann kaum erwarten, dass es weiter geht.
Auf manch Bücherreise habe ich sicherlich mehr gelernt als auf einer meiner anderen Reisen. Und dann sind da die Lebensreisen.
Eine war z.B. meine „Pferdereise“, auf der ich ein großes Stück meines Lebens unterwegs war. Von Aufzucht bis Ausbildung, von Outdoor Abenteuer bis Turnier, vom Viehtrieb bis zum Wüstenritt: Bei den Großen habe ich meine innere Ruhe gefunden, ein Fluchttier wird nie einen Partner akzeptieren, der nicht im Gleichgewicht ist. Auch diese Reise war ein immerwährendes Abenteuer.
Eine andere Lebensreise, ist meine Reise zum Meer, dorthin, wo es am wildesten ist. Zu den höchsten Wellen, zu den Winterstürmen am Strand, zu den hohen Klippen, zu den Tiefen, die man unter schwankenden Planken fühlt, zu den großen alten Segelschiffen. Ich glaube, diese Reise hört für mich niemals auf.
Und meine Reisereisen an andere Orte waren fast immer abenteuerlich. Rucksack gepackt und Flug gebucht. OK, die Ansprüche wurden größer als die Zeit knapper wurde, aber eine Pauschalreise habe ich – glaube ich – noch nie in meinem Leben gebucht. Sorgsam sind wir „out of season“ gereist und viele Sehenswürdigkeiten habe ich ohne Menschenmassen erlebt. Aber das ist lange her. Ein graues, nasses Venedig im Januar, das sofort mein Herz eingefangen hat, mit Clowns, die gespenstisch auf Brücken turnten und Gondeln, die ungenutzt im Regen sanft aneinander rieben. Ein Kreuzfahrtschiff habe ich dort nicht gesehen. Das war mein Venedig. Ein anderes möchte ich nicht wiedersehen. Und das geht mir mit vielen erlebten Dingen und Orten so: zahnpastageile Affen im Zelt, die Löwin, die mein Knie knapp verpasste, allein inmitten einer sternerleuchteten unendlichen Weite, Ziege vom offenen Feuer. Ein endloser türkiser Ozean, aber nichts zu essen außer halbgaren Muscheln und Erdnüssen, mit dem Pferd verlorene Kälber in den weglosen Bergen suchen. Und kaum ein Mensch weit und breit. Ich habe einen guten Teil der Welt gesehen und es war aufregend. Und es ist nicht wiederholbar. Es ist jetzt ein Teil von mir.
Gruselreisen.
Neulich fragte mich jemand, ob ich Gorillas in Uganda sehen wollte und ich googelte, dass es sich derweil um einen der drei größten Touristenhotspots der Welt handelt. Echt jetzt? Zu meinen Zeiten war das eine Abenteuerreise. Na danke! Es gibt keine Bilder eines Gletschers oder Wasserfalls weltweit, die beim Aufziehen zum Weitwinkel nicht Mengen von Tourbussen ins Bild rücken. Ein Flughafen hatte früher etwas von Fernweh und Vorfreude, heute bedeutet er Warteschlangen, Sicherheitschecks und verpasste Anschlussflüge. Nie würde ich es wagen, eine Bahnfahrt in Deutschland zu buchen, wenn ich eine Fähre zu erreichen möchte. Auf zwei erträgliche Autobahnfahrten kommt eine mit einer Vollsperrung. Stress statt Freude. Und sprechen wir mal kurz über Events. Ich hatte neulich die verrückte Idee, irgendwo mal einen Partenlauf zu sehen. Fakt: Tausende von Zuschauern, ausgebuchte Hotels, Parkplätze weit außerhalb des Geschehens, kilometerlange Fußmärsche oder Busfahrten. Geschiebe in Menschenmengen. Eine Sch… Idee.
Definitiv sind meine Ansprüche heute unrealistisch. Das ist nicht mehr die Welt, die ich erobert habe. Warum es also nicht gut sein lassen? Warum müssen alle Rentner auf Kreuzfahrt und warum ist Reisen für viele Menschen so unabdingbar fürs Wohlgefühl, wenn es doch tatsächlich mit erheblichem Stress verbunden ist? Und dazu alle die gleiche Idee hatten und sich dort wieder treffen? Oh, auch ich habe dieses „muss mal was anders sehen“, auch für meine Kamera. Aber es gibt auch vor der Haustür immer Neues zu entdecken, den Wechsel der Jahreszeiten in Wald und Flur und jeder Sonnenuntergang ist anders…
Sehnsuchtsreisen
Wo würde ich gerne noch einmal hin? So ein Sehnsuchtsort. Vielleicht nach Schottland. Out of season und abseits der Touri Routen. Gibt es. Aber die Schotten fahren wie die Geier auf zu engen und einspurigen Straßen. Links! Habe ich früher locker gemacht. Jetzt frisst das jede Menge Energie und mal eben den Blick schweifen lassen, geht gar nicht. Na ja, vielleicht ist es ja nur wegen des Malt Whiskys. Aber vielleicht nach Nazaré: die größten Wellen der Welt und viel Fisch. Das könnte man trotz Flug und Autofahren hinbekommen. Ansonsten: Ich habe Deutschland spät entdeckt. Was haben wir für ein wundervolles Land, das auf einer so kleinen Fläche so viele Unterschiede bietet. Besonders schön natürlich außerhalb der Saison. Leider meist nur per Autobahn zu erreichen. Aber sonst unter den heutigen Bedingungen? Ich wüsste nicht wohin, da kribbelt nichts mehr.
Zeitreise
Wir haben einen wilden, wundervollen Garten voller Arbeit (muss das Dünengras nun geschnitten werden oder nicht?), eine trockene Terrasse mit Outdoorküche (wie lange braucht der Weihnachtstruthahn auf dem Grill?). Und dann gibt es da eine Welt voller Bücher, hunderte von Wissensgebieten, von denen ich eigentlich noch gar nichts weiß. Es gibt Hobbys und Sammelleidenschaften. Und so viel Dinge, in denen ich immer noch besser werden kann. Ich finde immer neue Fahrradtouren und andere Brotrezepte. Den Tag mit einer Stunde Bewegung anfangen, in aller Laaaangsamkeit Kaffee trinken und durch die – meist fürchterlichen Neuheiten – der Welt streunen, sich über eine Kleinigkeit aufregen, Ewigkeiten duschen und sich etwas Bequemes anziehen. Sich für einen Marktbesuch entscheiden oder ein Still Life im Foto Studio schießen. Sich mit einem Buch auf die Couch verziehen oder endlich die neuen Photoshop-Funktionen ausprobieren und gleich in Kurzform aufschreiben – weil merken kann man sich ja nichts mehr. Ein bisschen Rumräumen, den Winterklamotten mehr Platz im Schrank verschaffen. Für mich ist so ein Tag immer noch ein ungeheurer Luxus. Wirklich Zeit zu haben für die Dinge, die man tut. Das ist eine ganz neue, ungewohnte Reise. Eine, für die man durchaus Mut aufbringen muss.
Traumreisen
Und ich träume. In meinen Traumreisen stehe ich gewandet in einer Audienzschlange für den Kaiser von China, wandere an steinigen Stränden entlang, an denen Monster miteinander kämpfen, lebe unter explodierenden Sterne in einer Tiefgarage und warte mit den anderen auf das Ende. Ich ziehe durch eine Wüste in einem Treck mit merkwürdig riesigen Zugtiere und wandernden Bäumen. Ich verliere mich in einer goldenen Stadt oder in einem schneebedeckten Palast, der unendlich viele Treppen hat, die zu Fenstern führen, die alle eine andere Landschaft zeigen.
In mir ist ein ganzes Leben voller Abenteuer, gelebte, geträumte, gelesene, geschaffene und immer kommen ständig neue WOWs dazu. Ich reise. Ab und zu brauche ich dazu einen Flugplatz oder ein Auto. Aber irgendwie meistens nicht.
PS: Meine augenblickliche Hamburgreise ist von Hartmut Höhne und heißt „Mord im Gängeviertel“. Gefunden bei „Kulturbowle„. Spielt zu Zeiten der „Gammelfleischunruhen“, für historisch und Hamburg Interessierte ein spannendes Buch und ein Zeugnis einer weniger bekannten Zeit.
Wow, das war aber ein toller Bericht, da kommt man gerne mit. Ja Reisen ist nicht nur eine Sache die von A nach B führt. Das meiste kommt aus dem Kopf, selbst wenn man dann tatsächlich weg fährt.
Vielen lieben Dank für die Verlinkung! Es freut mich, wenn Dir die Zeitreise ins Hamburg des Jahres 1919 gefällt. Und Buchreisen liebe ich sowieso…
Herzliche Grüße und ein wunderbares Wochenende! Barbara
Ja, es ist leider so, auch in der Vor- und Nachsaison trifft man überall jede Menge Leute, die alle gleich aussehen und alle das gleiche vorhaben….