Die 1920er und ihre Litfaßsäulen

Plötzlich, es ist nicht mehr nachvollziehbar, woher die Idee kommt, geht einem ein historischer Zeitraum nicht mehr aus dem Sinn. Oft begegnete er einem in einem Buch oder Film, mich haben gerade die 20er Jahre gepackt. Spätestens seit Babylon Berlin haben viele davon ein Bild vor Augen.

Die 20er Jahre in Deutschland waren eher wild als golden. Kriegsnachwehen, Verbrechen, Gewalt, politische Unruhen, Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite. Auf der anderen Seite Glanz, Glamour, Luxus und Prasserei. Alles ist im Fluss: Neue Musik, neue Kunst, neue Mode, ungekannte Freiheiten.

Und da gab es ein Medium, das alles das widerspiegelte, weit mehr als viele andere Medien: die Litfaßsäule. Diese von Herrn Litfaß erfundene Kommunikationsmethode, feierte ihren kometenhaften Aufschwung in Berlin und verbreitete sich von dort aus immer weiter. Wo immer ich heute eine Litfaßsäule finde, kann mich nichts davon abhalten, um sie herumzuwandern, um alles zu lesen, was sie hergibt.

Als ich anfing, fiktive 20er Jahre Plakate zu kreieren, musste ich feststellen, dass ich eigentlich ganz wenig wusste über die Zeit. Um mein Vorhaben umzusetzen, musste ich mich noch vor den Inhalten mit der Gestaltung auseinandersetzen.

Die Zeichen der Zeit

Und da wurde es spannend. Welche Schriften waren gerade in? Was nutzen die Werbegrafiker? Was die Behörden oder Parteien? Welche Kunststile hatten Einfluss auf die Gestaltung, welche Farben, welche grafischen Elemente? Wer waren die Künstler dieser Zeit? Bei jedem einzelnen Werbeplakat tauchten neue Fragen auf: Über die Distribution von Produkten, über technischen Fortschritt, über Medizin, über Transport…

Beispiel: Wer weiß, dass es bei der Reichsbahn eine vierte Klasse als Stehklasse gab? Gab es Parfumerien? Wie war das mit den Varietés und dem Zirkus zu der Zeit? Und gab es schon Tonfilm? Welche Künstler waren bekannt? Aus dem politischen Bereich habe ich mich weitgehend heraus gehalten. Fiktive Plakate zur Parteienwerbung wollte ich nicht gestalten. Die gab es allerdings reichlich um diese Zeit. Bei jedem Plakat tauchten neue Fragen auf, die geklärt werden wollten, damit es authentisch sein konnte.

Parfumwerbung

Fangen wir mit etwas Schönem an: Parfum. O ja, es gab einige Parfümeure und es wurden jedes Jahr neue Parfums verkauft. Nicht so viele wie heute, aber es gab reichlich Auswahl in den Parfumerien. 1921 wurde Chanel No. 5 auf den Markt gebracht. Gabrielle Chanel wollte ein stilsicheres Komplettpaket kreieren, welches von Kleid bis zum Hut reichte und das Parfum als „ultimatives und unübertreffliches Accessoire“ inkludiert.

Parfums und Parfumwerbung spielten in dieser Zeit oft mit Elementen des Jugendstils und später mit Art Deco Elementen: Flächige Elemente, geometrische Formen. Oft folgten auch die Flacon einem dieser Stile. Den größten stilistischen Sprung wagten vor allem aber die Schriften. Von der alten Frakturschrift hin zur Gil sans und ähnlichen serifenlosen Schriften. Vom handschriftlichen Schnörkeln zu geraden geometrischen Schnitten auch bei den Kunstschriften. Welch ein Sprung. Hier benutze ich eine Jacked und eine Gil sans Nova.

Ach übrigens: Die Fotografie war in der Werbung noch nicht so recht angekommen. Schwarzweißfotos in verbesserungswürdiger Qualität eigneten sich nicht für den Rausch, den man in Szene setzen wollte.

Politisches

Die Weimarer Republik brachte Aufstände und politische Attentate. Viele Parteien warben um die Gunst der Wähler. Häufig standen dabei die Frauen im Vordergrund, die das Wahlrecht erst 1918 erhalten hatten und oft noch nie gewählt hatten. Je nach Partei waren die Plakate oft sehr kämpferisch. Das Wahlrecht wurde eher als eine Wahlpflicht hingestellt.

Ich suchte für ein Plakat einen Ansatz aus Sicht der Frauen selbst heraus. Und bediente mich eines ganz neuen Stils, der damals von Künstlern wie Otto Dix oder Georg Grosz vertreten wurde und Neue Sachlichkeit genannt wurde.

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Das nächste Mal gibt es etwas über Motorräder, dunkle Schokolade und eine Kunstausstellung.

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