Mila und die dünner werdende Sehnsucht

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Mila hatte ihre Sehnsucht immer um sich geschlungen wie einen weich schwingenden Tuchmantel, der sie sicher umhüllte. Der sie irgendwie zusammen hielt und sie auch interessant machte.

Sie hatte viele Sehnsüchte gehabt im Laufe ihres Lebens. Sehnsuchtsorte, Sehnsuchtssituationen, Sehnsuchtsdinge, Sehnsuchtsgefühle. Viele davon waren erfüllt worden.

Sie hatte sie sich erfüllt. Oder sie waren einfach zu ihr gekommen, standen entlang ihres Weges aufgereiht, als warteten sie auf sie.

Und dann waren da Teile in dem Mantel, Sehnsüchte, für die Mila keine Worte hatte, die sie nicht einmal verstand. Und auch von denen waren einige einfach zu ihr gekommen und waren erfüllt worden.

Sehnsucht ist ein köstliches Gefühl. Ein Schmerz, der Mila daran erinnert lebendig zu sein. Eine Kraft, die sie weiter treibt.

Manchmal ist Sehnsucht ein Bild, manchmal ein Geruch. Oder auch ein Gespräch in ihrem Kopf oder das Gefühl von warmer Haut. Sehnsucht kann sein wie Hunger oder wie ein Stück Musik, oft nur die Abfolge weniger Töne. Was immer es ist, es treibt ihr die Tränen in die Augen.

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Solange Mila auf dem Weg ist, sich eine Sehnsucht zu erfüllen, ist alles gut. Da kann nichts ihr etwas anhaben. Keine Enttäuschung, kein umstürzender Baum, kein abknickender Weg, keiner, der Sie im Stich gelassen hat.

Sie ist auch bereit, etwas zu tun, um ihren Sehnsuchtsweg weiterzugehen. Nicht, dass sie dabei über Leichen gehen würde, aber da liegt schon eine Menge zerschlagenes Porzellan an Milas Weg des Begehrens.

Aber in letzter Zeit ist dieser Mantel dünner geworden und das macht ihr Angst. Bilder, die unschärfer werden, Melodien, die nicht mehr erkennbar sind. Erfüllte Sehnsüchte oder gestorbene, die durch keine neuen ersetzt werden.

Allein der Geruch und der Geschmack betrügen sie fast nie. Noch riecht Mila den Atem der Löwin, die sie fast das Leben gekostet hatte. Sie schmeckt den feinen Staub der roten Erde, die der Elefant nur zwei Meter vor ihr aus dem Boden stampft, während sie sich bebend vor Leben und zitternd vor Angst im hohen Gras duckte. Hunger überfällt sie beim Duft des Fetts, das aus dem Zicklein in das offene Feuer tropft. Und ihre Finger beben, wenn sie sich erinnert an den feinen Wildgeruch und die zarten Flügel der Fledermaus, die sich Nachts auf ihrer Brust in ihr Schlafshirt gekrallt hat. Diese Sehnsucht ist eine Sucht, die nie gestillt, wohl aber enttäuscht werden kann. Sie ist zu klug, diesen Kontinent, von dem Sie zu viel weiß, noch einmal zu betreten.

Die Bilder der violetten Tiefen der schottischen Highlands, in denen ihr die Sechsfingrigen begegneten, und der schroffesten und einsamsten Küsten, an deren Klippen sie streifte und im Meer versank, ertränkt Mila ab und zu in einem Glas des torfigen, salzigen Malt Whisky.

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Geblieben auch diese Sehnsucht nach der Haut eines anderen. Aber die Sehnsucht nach Haut, sich in den Armen eines anderen verlieren, war das nicht ein Allerweltsbegehren, dessen Erfüllung ihr weit mehr vergönnt gewesen war als so vielen anderen. Musste sie da nicht zufrieden sein?

Und das Meer? Was ist mit diesem Band zwischen ihr und den Tiefen und den endlosen  Wellen? Kann Sie diesem Bündnis noch gerecht werden? Ist Sie noch stark genug für diese mitleidslose, brodelnde Schönheit, die schon immer in ihren Träumen war und die ihre Sehnsüchte nie enttäuscht hatte.

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Schal geworden die Sehnsucht nach Wissen, fast hoffnungslos der Drang nach Erkenntnissen. So viel im Kopf und die Überzeugungen fair genug erkämpft. Zu müde zum Weitermachen. Milas Zeit läuft ab. Abgetragen der Mantel der Sehnsucht, er wärmt nicht mehr, hält sie nicht mehr zusammen. Kann Sie so weiter gehen? Oder ist Sie angekommen?

Nur ist der Ort, an dem Sie ist – ein guter Ort – nichts, nach dem Sie sich jemals gesehnt hätte. Er hat diese monotone, leise Melodie, so eine, die die Menschen beruhigen soll, im Fahrstuhl oder im Flugzeug. Ein Ort, an dem alles getan scheint, der nie nach Veränderung streben wird.

Nicht weil alles perfekt ist, sondern eben so perfekt, wie es sein kann. Wie eine Kugel, die ihr Gleichgewicht auf einer Ebene gefunden hat.

Aber dieser Stillstand ist für sie betäubend. Seelenbetäubend. Kann sie überhaupt leben ohne Sehnsucht? Ohne etwas zu wollen, sich nach etwas zu strecken? Ohne sich zu bewegen? Ohne diesen süßen Schmerz zu fühlen, der Sie immer weiter getrieben hat?

Das Leben ist vergangen, welchen Weg sie auch immer gewählt hat. Aber wenn sie jetzt stehen bleibt, weil sie keinen Weg mehr sieht, dann vergeht das Leben ebenso.

Was für eine Vergeudung. Mila dreht und wendet sich auf der Stelle. Versucht ihr Begehren, ihre Sehnsucht wieder zu finden, Bilder am Horizont zu sehen, die Luft nach einem Duft abzusuchen.

Vielleicht, wenn Sie sich schneller dreht, wird aus ihr ein Wirbelwind. Und dann – ja dann ist alles möglich.

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