Die Geschichte von Bobby und Chen

Mit Tev die Reise bis aufs Festland zu machen, ist einfach gewesen. Aber von da an ist alles neu. Sie haben sich selbst eine Aufgabenliste gegeben, bei deren Abarbeitung sie ihre Fühler ausstrecken wollen. Lis mit ihrer unnachahmlichen Art auf Leute einfach zuzugehen und Neve mit ihrem feinen Gespür. Sie haben gerade eine große Tasche neues Schuhwerk zusammen gesucht und suchen nach dem Schreibwarenladen, als sie aus der offenen Tür eines heruntergekommenen Hauses ein lautes Klagen vernehmen. Ein handgemaltes Schild preist Akupunktur als Mittel gegen Kopf- und Rückenschmerz an. Ein etwa 12 jähriges Mädchen mit völlig zerzaustem Haar stürmt laut schimpfend aus dem Haus, an den beiden vorbei. Hinter ihr fällt die Tür mit lautem Knall ins Schloss. Gleichzeitig stürzt ein Dachziegel von oben herab auf das Pflaster und zerschellt kurz vor Lisbeth Füßen. Sie schreit auf.

Währen sie noch fassungslos dem Mädchen hinterher blicken, öffnet sich die Tür wieder. „Es tut mir so leid, sind sie irgendwie verletzt?“ Eine zierliche Asiatin verbeugt sich leicht vor ihnen. „Nichts passiert“, sage Neve, „aber was ist denn bei ihnen passiert?“ „Tut mir so leid“, wiederholt die Frau. „Jenny hat solche Probleme in der letzten Zeit.“ „Ach“, Neve lächelt, „das kenne ich. Ich habe eine Tochter in diesem Alter, die sich zunehmend merkwürdig benimmt.“ Die Frau betrachtet sie eine Weile. „Mein Name ist Chen. Hätten Sie Lust auf einen Tee herein zu kommen? Auch ganz ohne Schmerzen?“ Sie deutete lächelnd auf das Schild. „Eigentlich“, begann Lisbeth, doch Neve legte ihr die Hand auf den Arm. Das Innere des Hauses war sauber und winzig. Kaum groß genug für die Geschichte, die Chen zu erzählen hatte. Und für das Glück, das Lisbeth und Neve auf ihrer Suche haben sollten.
Bobby und Chen lebten in London, d.h. eher am Rande des riesigen Krakens in einer winzigen Wohnung. Zusammen mit Tochter Jenny, die ein Unfall, aber auch ein Glücksfall gewesen war und hatte beide nur bestärkt hatte, ihren Weg weiter zu gehen. Ben hatte sich als erfolgreicher Physiotherapeut entschlossen, doch noch Medizin zu studieren. Ihm fehlte noch ein Semester und er absolvierte gerade sein letztes Praktikum in einer großen Londoner Klinik. Chen hatte von ihrem Eltern viel über ganzheitliche Medizin gelernt und hatte erfolgreich eine Ausbildung zum Akupunkturtherapeuten absolviert. Im Moment finanzierte hauptsächlich sie ihr bescheidenes kleines Leben. Sie waren vor dem Virus in den Norden geflohen und in einer der Küstenstädte hängen geblieben. Bobby hatte aber schnell begriffen, dass es kein Entkommen gab. Erstaunlicherweise hielt die kleine Familie durch.

Aber am Ende der Pandemie standen sie da ohne einen Cent, in einer fremden Stadt, abgebrannt, in Lumpen, hungrig. Niemand ließ Ben ohne eine Urkunde als Arzt arbeiten. So machten sie sich auf den Weg weiter in den Norden. Je einsamer das Land wurde, umso besser konnten Bobby und Chen ihre Fähigkeiten verkaufen. Immer unterwegs zu sein, funktionierte am besten, um allen Fragen zu entgehen. Dann fingen die Sache mit Jenny an schwierig zu werden. Sie wurde immer unleidlicher, ertrug keinen Lärm mehr, keine Gerüche, beschwerte sich immerzu. Reagierte mit Zorn, Wutausbrüchen. Chen versuchte, sie so weit wie möglich abzuschirmen. Sie zogen weiter, suchten einen ruhigen Platz. Ben fand keine neue Arbeit als Mediziner. Er begann im Hafen zu arbeiten. Chen eröffnete eine kleine Akupunkturpraxis und versuchte, Jenny zumindest zuhause zu unterrichten.

Aber Jenny ist nicht mehr aufnahmefähig. Sie kann Minuten vorher sagen, wann Bobby nach Hause kommt. Sie hört die Gespräche aller Nachbarn, aber auch die Streitgespräche, die Bobby am Hafen mit dem Vorarbeiter führt. Kochgerüche bringen sie zum Erbrechen. Etwas stimmt mit ihren Augen nicht. Sie behauptet abwechseln gestochen scharf und dann wieder wie im Schwindel zu sehen. Chen ist am Verzweifeln.

Als Lisbeth ihr sagt, dass es da vielleicht einen Ausweg gibt und das – so sie es denn wollen – morgen ein anderes Leben für sie beginnen kann, kann Chen gar nicht erwarten, dass Bobby noch Hause kommt. Inzwischen greift sie nach jedem Strohhalm. Als alle beisammen sitzen und auch eine unglückliche Jenny sich mit mürrischem Gesicht zu ihnen gesetzt hat, fangen Neve und Lisbeth an zu erzählen. Jenny kann es kaum glauben: „Mehr Kinder wie ich?“ „Nein, Jenny, nicht genau wie du. Aber sie werden sofort wissen, dass das stimmt, was du ihnen erzählst und sie werden sich bemühen, es dir leichter zu machen. Aber du musst an dir arbeiten. Es wird nicht einfach werden. Wir wollen erreichen, dass du deine Gabe an- und abschalten kannst, so wie du es willst. Das wird dir ermöglichen, wieder zur Schule zu gehen, zu spielen und deinen Eltern zu helfen.“ Jenny würde am liebsten gleich packen, auch wenn sie noch Zweifel hat. Mehr als Unterkunft und Essen können die Inselbewohner Chen und Bobby nicht versprechen, wohl aber die Chance auf mehr.

Es wird eine lange Nacht, bevor Lis und Neve in ihre karge Unterkunft zurück kehren. Neben ihren Erledigungen wollen sie morgen noch das Kinderheim besuchen, von den Fortschritten ihrer Kinder berichten – in einer angepassten Version natürlich – und sich vorsichtig bei den Nonnen nach Problemkindern umhören. Wie es sich herausstellen wird, haben sie die Nonnen unterschätzt.

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