Leseecke: Tante Lina und der Krieg in Gelsenkirchen

Zwei Bücher, die mich schwer beeindruckt haben: Tante Linas Kriegskochbuch und Tante Linas Nachkriegsküche.

Wer wissen will, wie es wirklich war – nicht an der Front, nicht auf der großen politischen Ebene, nicht in der Wochenschau und auch nicht in all den nachbetrachtenden Dokumentationen – der liest Tante Linas Kochtagebücher aus Gelsenkirchen.

Nicht dass die Rezepte tauglich wären, sie dokumentieren nur das ganze Ausmaß des Schreckens und des Elends. Das Jahre dauerte. Tante Lina hingegen ist voll tauglich. Wie sie sich durchs Leben schlägt, mit nie nachlassendem Mut, pfiffigen Ideen, denen da oben eines auswischt, sich in Gefahr bringt – davon erzählt dieses Buch. Und auch davon, wie sie fluchte, rauchte, soff, schwarz schlachtete und respektlos war – davon erzählt dieses Buch.

Ohne jemals davon abzulenken, wie grausam ernst die Lage war. Lebensmittel gab es Jahr für Jahr weniger, die städtischen Flächen wurden zu Kartoffeläckern, dann gab es nur noch Rüben. Die gesamte Bevölkerung war unterernährt und litt unter Mangelerscheinungen.

Sauerampfer Koteletts
125 g Sauerampfer, drei Brötchen, ein Ei, eine gehackte Zwiebel, Salz, Petersilie, ein EL Mehl, zwei EL Semmelbrösel.
Sauerampferblätter waschen, Brötchen einweichen. Sauerampfer und Brötchen grob hacken, mit den restlichen Zutaten verrühren. Aus der Masse Koteletts formen, in Semmelbröseln wälzen und in heißem Fett braten.

1945 findet sich nur noch diese Rezepte:

Gebräunte Mehlsuppe
Vier El Mehl, 1,25 l Wasser, 20 g Streckfett, Salz, Pfeffer Muskat.

Eichelblutwurst
Vier Tassen Molke, eine Tasse Eichelmehl, zwei rohe Kartoffeln, eine klein gehackte Zwiebel,, Pfeffer, Salz, Majoran, 500 g Weißbrot

Im Frühjahr 1947 beliefen sich die Tagesrationen aus 1.050 Kalorien pro Kopf. Fleisch gab es nicht mehr. Es gab eben kein Viehfutter, die Tiere verhungerten oder wurden notgeschlachtet. Dann brach die Kartoffelversorgung zusammen. Ländliche Anbaugebiete wurden zur Erntesicherung für alle nicht ansässigen Personen gesperrt.

Das Kriegsende machte alles schlimmer. Auch die Besatzer hatten nichts, was sie hätten verteilen können.

1948 gab es eine Tageszuteilung von: 321 g Brot, 36 g Nährmittel, 4,4 g Kaffee, 18 g Fisch, 7 g Fleisch, 2,2 g Käse, 9 g Zucker und 16 g Marmelade.

Hier beginnt „Tante Linsa Nachkriegsküche“. Zur schlechten Ernährungslage kamen kalte Winter und Brennstoffmangel. Und die Flüchtlinge Und natürlich fehlende Unterkünfte.

Berlin im Frühjahr 1946 Ausgabe der Lebensmittelkarten in der Kartenstelle; Bez. Tiergarten Aufn: Illus-E. O. Krueger 140-46 1999/0331/504

Noch Jahre lebte die Bevölkerung von und mit Lebensmittelkarten. Die Schwarzmärkte boomten, Kriegsgewinnler lebten ausschweifend, die Sterblichkeitsrate von unterernährten Kindern nahm immer noch zu.

Die Rede ist aber auch vom Marshall Plan, der Bevorzugung der Bergarbeiter, von amerikanischer Lebensmittelhilfe und von dem neuen Geld.

Wer lesen will, wie es wirklich war für alle Jedermanns, wie eine Tante Lina in Gelsenkirchen diese kargen Jahre meisterte, der hat hier besten Lesestoff.

Obwohl es etliche Neuauflagen gab, findet man die Bücher am besten antiquarisch in den Online Antiquariaten.

2 Gedanken zu „Leseecke: Tante Lina und der Krieg in Gelsenkirchen

  1. kenne ich aus eigenem Erleben. als Kind fand ich das alles nicht essbar – Hunger hin oder her. Besonders schlimm war die Schulspeisung. Und natürlich die ungeheizte Wohnung, die mit Torf notdürftig in Gang gehaltene qualmende Kochhexe die einzige Wärmequelle ….Aber unsere Mutter kämpfte erfolgreich, uns am Leben zu erhalten.Manchmal weinte sie, zB als das Schmelzwasser in den Keller eindrang und die wenigen Kartoffeln ruinierte. Könnte damit Bücher vollschreiben.

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