Die Insel: Der Steinkreis

Die Kinder haben wenig Zeit in diesem Sommer, um gemeinsam herum zu stromern. Nur zweimal haben sie es bis ins Tal geschafft. Und von Beginn an ist ihnen viel Merkwürdiges aufgefallen. Sie beginnen mit der Erkundung unten am Fluss, wo ihnen von oben das lange gelbe Gras aufgefallen ist, das so wundervoll im Wind wogt. Einmal mIttendrin stellen sie fest, dass das Gras hart ist und scharfkantig und man sich besser vor ihm hütet. Katy lässt eines der langen, feinen Blätter vorsichtig durch ihre Finger gleiten: „Es will nicht gefressen werden“, stellt sie fest. Im Wald gab es eine Fülle alter Bäume und viele Vogelarten, nur erwies sich das Unterholz als so dornig, dass sie nirgendwo in den Wald eindringen konnten. Die jungen Bäume schienen merkwürdig krank, ohne Kraft, ihr Grün schwächlich. Liam entdeckte, woran es lag: Ihre gesamte Rinde war angeknabbert.

Und überall sehen sie die Hirsche. Sie stieben zwar vor ihnen davon, aber dafür scheinen hundert Meter weiter gleich ein paar neue aufzutauchen. Sie sind überall. Am Flussufer ist es am schönsten. Der Fluss gurgelt über Steinblöcke und kleine Kiesel, umrundet einen Felsen auf dessen Spitze eine kleine Birke thront, schießt eine Stromschnelle hinunter und wird dann weiter und ruhiger. Jetzt spiegeln sich Gräser und Bäume auf seiner stillen Oberfläche. Kleine silberne Fische stellen sich seiner Strömung entgegen. Sie beschließen der Strömung entgegen bis zum Wasserfall zu laufen, den sie von oben gesehen haben. Aber wie sie es von der Anhöhe aus gesehen haben, teilt sich der Fluss in zwei Arme. Sie folgen dem Arm auf ihrer Seite. Eine Überquerung scheint ihnen nicht unmöglich zu sein, aber heute mögen sie das nicht riskieren. Sie können in der Ferne schon den Wasserfall sehen. Das gelbe Gras wird dünner, sie wandern jetzt über Geröll und das Vorankommen wird mühsam. Aber dann werden die Steine kleiner und grüne, fette Grasbüschel wachsen zwischen den Steinen. Und dann ist da eine wirklich grüne Wiese mit Feldern weißer Kamilleblüten. Aus irgendeinem Grund scheinen die Hirsche den Ort zu meiden und das Gras in Ruhe zu lassen. Es dauert nur noch eine kleine Weile und sie finden die ersten beiden Steine. Der erste ragt kniehoch aus der Weide heraus, der zweite ist schon hüfthoch. Moosüberwachsen an der dem Fluss zugewendeten Seite, zeigen die anderen Seiten Spuren von Bearbeitung. Sie sind sehr glatt, es gibt schartige Einschnitte wie von einer Axt, aber die würde natürlich dem Stein nichts anhaben können.

Joshua entdeckt die nächsten zwei. Sie ragen nicht mehr so weit aus dem Boden, man hätte sie im Gras leicht übersehen können. Etwas weiter vom Fluss entfernt geht die Wiese in ein kräftig grünes Gestrüpp über. Es ist Joshua, dem Entdecker, zu verdanken, dass sie den größten der Steine finden, versteckt hinter einem Busch. Er überragt Joshua um einem Kopf. Sie finden im Gestrüpp zwei weitere. Der eine ist vielleicht noch größer als der letzte Fund, aber er ist gekippt und scheint wie ein riesiger Zeigefinger auf den Fluss zu deuten. Katy erkennt es als erste: „Das ist ein Kreis. Ein Steinkreis.“ Sie sehen sich an. Sie wären nicht Kinder dieses Landes, wenn sie nicht wüssten, was das bedeutete: Hier wohnt Magie. Ein Ort voller Kraft und Energie und Zauber und ein Segen für die Insel und ihre Bewohner.

Sie kappen die Spitzen des Busches, treten Gras nieder vor den versunkenen Steinen, bis sie alle von einem Ort aus sehen können. Liam postiert jeden von ihnen vor einem Stein, immer einen Stein auslassend und heißt sie mit Blick auf den gegenüberliegenden Stein in gerader Linie loszulaufen. Er zählt laut ihre Schritte. Dort, wo sie sich treffen, legt er seinen Rucksack ab. „Die Mitte“, sagt er, „Zwar sicher nicht genau, aber…“ Katy winkt. Sie hat zwei Meter weiter links etwas gefunden. Hier liegt ein quadratisch behauener Stein: „Könnte hier sein“, meint sie. Sie können fast ihre Herzen pochen hören, so aufregend ist ihre Entdeckung. Joshua ist schon wieder davon getrottet, dem Wasserfall entgegen. Er ruft. Ganz nahe am Wasserfall, gerade so weit entfernt, dass die Gischt sie nicht erreicht, liegt eine alte, sehr große Feuerstelle. Die wurde so lange benutzt, dass die Randsteine fast schwarz sind und die Erde darin so tief verkohlt, dass außer zwei einsamen Brennesseln nicht darin wächst. Das Gras hat die Randsteine fast schon zurück erobert.

Es ist ein bestechend schöner Platz zwischen dem kleinen Wasserfall und dem Steinkreis. Ein Ort zum Singen, scheint es Katy. Ein Ort, um den Erbauern Respekt zu zeugen, denkt Liam. Ein Ort zum Baden, scheint es Joshua, der sich fix auszieht und sich unter den Wasserfall stellt. Das Lachen vergeht ihm schnell und seine Gänsehaut hat nichts mit Magie zu tun.

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