Die Insel: Außergewöhnliche Ankömmlinge

Während einige Jahre nach dem dunklen Damals viele Menschen wieder beginnen auf dem Festland in den sich entwickelnden Dörfern und Kleinstädten zu leben, hält das Inselvolk es mit seiner Abgeschiedenheit – als ein Privileg für alle Fälle. Die Inseln betreiben schwunghaften Handel untereinander und mit dem Festland, was eine Notwendigkeit ist, aber wer Morgens mit einem Boot anlegt, wird spätestens am nächsten Tag die Insel mir diesem Boot wieder verlassen.

Um so bemerkenswerter ist es, dass Tev Truth die kleine Inselgemeinde bittet, eine Familie aufzunehmen, die er auch gleich mitgebracht hat. Verweigern mögen sie es ihm nicht, unbehaglich ist ihnen aber dennoch zumute. Bis Struadh den Kai betritt. Ein hochgewachsener Mann, schlicht gekleidet, gut aussehend, wäre er nicht völlig ausgezehrt. Unter jedem Arm hält er ein Bündel. Er geht vorsichtig in die Knie und die Bündel entpuppen sich als zwei völlig gleich aussehende kleine Mädchen, den Kopf voller goldener Locken, die Gesichter wie Elfenbein. Sie starren. Während Struadh beginnt zu sprechen: mit feinen, ausholenden, langsamen Gesten, einer Flut von Wellenbewegungen, die die Freundlichkeit seiner hellbraunen Augen spiegeln und damit enden, dass er die Hand auf die Brust legt und den Kopf ganz leicht senkt.

„Er heißt Struadh“, übersetzt Tev Truth. „Und er braucht Hilfe. Und er hofft, sie hier zu finden.“ Die Zwillinge starren Tante Lovely an, mit in den Nacken gelegtem Kopf inspizieren sie ihren Hut. Tante Lovely nimmt ihn ab und hält ihn ihnen hin. Sie schauen zu ihrem Vater. Der nickt. Und wie plötzlich befreit, stürmen die zwei mit erstaunlich sicheren Schritten vorwärts, um den Hut zu betasten, die Feder und Tante Lovelys graues Haar. Als sie ihr ins Gesicht fassen, gibt Struadh ein knurrendes Geräusch von sich. Die beiden wenden sich um und brechen in eine Fülle ungeheuer schneller, präziser Bewegungen mit ihren Händen aus. Struadh lächelt. Langsam bewegen sich seine Hände. „Sie haben lange keine Frau mehr gesehen“, übersetzt Tev Truth. Struadh schaut Neve an, hockt sich wieder hin, deutet auf den Dampfer, die Insel, auf Tante Lovely und malt drei Fragezeichen in den Sand. „Die Kinder haben tausend Fragen“, übersetzt Neve mit Leichtigkeit.

In dem Augenblick beginnen die Kinder zu sprechen? Sie stoßen eine Fülle zwischernder Laute aus. Meistens vokalähnlich in unterschiedlichen Tonhöhen und Klangdauer. Sie zwitschern und trillern und singen, ihre Augen leuchten und ihre goldenen Locken springen. Sie stellen Fragen und lachen und verwundern sich. Ihre Hände ruhen entspannt an ihren Seiten. „Sie haben ihre eigene Sprache“, erklärt Tev, „eine, die nur ihnen gehört, die nur sie verstehen. Sie sprechen diese und die Gebärdensprache, unsere sprechen sie nicht.“

Während Neve und Katy mit der Familie zum Strand hinunter wandern, erzählt Tev ihnen, was er von Struadhs Geschichte weiß. Sie waren auf der Flucht hoch in die Berge zu einer abseits gelegenen Jagdhütte seines Vaters. Struadh, seine Frau, seine Schwester und die gerade mal ein Jahr alten Zwillinge. Als sie von drei fast verhungerten Jugendlichen angegriffen wurden, infizierten sich die Frauen. Sie waren tot, bevor sie ihr Ziel erreichten. Struadh hatte die beiden Kleinkinder zwei Jahre lang dort oben am Leben erhalten. Er schoss Rotwild, Kaninchen, Vögel… Er fütterte die Kinder mit dem Mageninhalt der Beutetiere, mit Beerenbrei und dann immer wieder Fleisch. Den Kindern schien die Kur zu bekommen. Ihm nicht. Also beschloss er, wieder hinunter zu wandern, um Hilfe für die Kinder zu suchen. Tev fand die Familie, als die Nonnen ihm gerade die Kinder abnehmen wollten. Sie meinten es gut mit den Kindern, Struadh war obdachlos, mittellos… Also packte Tev sie kurzerhand ein. Unten am Strand üben Neve und Katy ihre ersten Worte in der Gebärdensprache.

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