Eine kleine zierliche Frau durchquert die Welt und reist an die Grenzen von Alaska. Um ihre eigenen Grenzen zu finden.
Sie will auf einen Fischtrawler, so einen, der weit hinaus fährt und mit der See kämpft. Sie hat keine Lizenz, keine Erfahrung, keine Ausrüstung, kein Geld, keine Ahnung: nur ihren Willen, ihre Sehnsucht nach dem Meer, ihre Sehnsucht nach dem Unbedingten. Sie muss da raus, sich der See stellen.
Als sie ein Schiff findet, ersparen ihr weder die See noch die Mannschaft irgendetwas. Sie schläft auf dem Boden, friert, arbeitet tagelang durch. Das Fischen mit der Langleine ist gefährlich, hart, anstrengend. Der Thunfisch ebenso groß wie sie. Sie lebt in einem Kostüm aus Blut, Fischschleim und Salz. Es ist, was sie will.
Sie stirbt beinahe, als ein Fisch seinen Rückensporn durch ihre Hand jagt und sie die Wunde verschweigt. An Land geht sie mit den Männern trinken. Aber sie ist immer als erste am Hafen zurück. Sie muss ans Meer. Sie lässt sich mit niemandem ein, nicht für eine Freundschaft, nicht für eine Liebe. Fast nicht.
Die Stadt ist trist. Eine Fischfabrik mit ihrem Gestank, ein Strand voller Abfall, zwei Motels, Kneipen, ein Shelter. Die Adrenalinkicks auf See machen die Männer süchtig. Nur Drogen und Alkohol machen den Aufenthalt an Land erträglich. Kaum einer hat feste Beziehungen.
„Ich weiß nicht, woher das kommt, dass man derart leiden möchte, für nichts und wieder nichts, im Grunde genommen. Es fehlt einem an allem, an Schlaf, an Wärme, auch an Liebe“, fügt er mit gesenkter Stimme hinzu, „bis zum Gehtnichtmehr, bis man diese Arbeit hasst, und trotzdem kommt man wieder, weil der Rest der Welt einen anödet, einen derart langweilt, dass man wahnsinnig werden könnte. Und am Schluss kann man nicht mehr darauf verzichten, auf diesen Rausch, die Gefahr, ja diesen Wahnsinn“.
Lili ist das egal. Sie sucht ihre ganz eigenen Grenzen. Nach Port Barrows möchte sie. Ans Ende der Welt. Und dort auf einem Felsen sitzen, auf das Meer hinaus schauen. Und abheben und fliegen. Sie weiß, dass sie das Meer nicht besiegen kann. Sie will es nur fühlen, das alles da draußen. Ein Teil davon sein: vom Meer und der Kraft, die es bewegt.
Auf der nächsten Fahrt verletzt sie sich wieder. Ihr Geliebter, der Fischer, der ein Löwe ist, versucht dem Kreislauf des Fischen und Trinkens zu entkommen und sie mit sich zu nehmen. Sie kann sich nicht überwinden. Humpelnd verdient sie sich mit kleinen Arbeiten ein wenig Geld am Hafen. Niemand nimmt sie mit hinaus.
Dort am Strand dieser traurigen Stadt endet diese Geschichte.
Ich wende die Seiten und weine. Wieder und wieder. Nicht um sie. Vielleicht um mich. Ich war überzogen mit einer Schicht aus Regeln und Erfahrungen, die mein Wohlergehen sichern sollten, bevor ich meinen Namen buchstabieren konnte. War ich jemals unbedingt? Oder versucht, mich bis aufs Innerste auszuziehen? Wer bin ich? Wo sind meine Grenzen? Vielleicht muss es so schmerzen, sich selbst zu entdecken, zu sich selber vorzudringen…
Die Geschichte ist fesselnd, manchmal unerträglich, aber auch unerträglich ehrlich in einer geraden Sprache, die nichts beschönigt. Verzweifelt unbedingt. Unbedingt verzweifelt. Unbedingt lesenswert!
Die Autorin: Catherine Poulain hat 10 Jahre auf dem Meeren Alaskas verbracht. Sie arbeitete in einer Fischkonservenfabrik in Island, in einer Werft in den USA und als Barkeeperin in Hongkong. Heute lebt sie mit ihren Schafen als Hirtin in den Weinbergen Südfrankreichs.
Catherine Poulain: Die Seefahrerin. btb Verlag. ISBN 978-3-442-75739-8
Das ist richtig mitnehmend toll.